Vor 40 Jahren gingen in Thüringen die Lichter aus
Der Winter 1978 / 79
Zum Jahreswechsel 1978 / 79 kam es zu einer außergewöhnlichen Großwetterlage die weitreichende Folgen in Ost und Westdeutschland haben sollte. Auf milde Luftmassen im Süden traf extrem kalte Luft aus Skandinavien und mit Sturmstärke breiteten sich die Schneemassen bereits ab dem 21. Dezember 1978 nach Süden aus.
Die Temperaturen fielen binnen weniger Stunden um bis zu minus 30 Grad, sodass der Bahnverkehr wegen Schneeverwehungen und eingefrorener Weichen größtenteils zum Erliegen kam. In den Braunkohlentagebauen des Lausitzer Reviers und um Leipzig war der Kohleabbau zunehmend erschwert bis unmöglich geworden. Die nasse Braunkohle, Abbau- und Gleisrückmaschinen sowie Transportbänder waren eingefroren.
Verzweifelt versuchten die Kohlekumpel gemeinsam mit Soldaten der Volksarmee und der in der DDR stationierten Sowjetstreitkräfte mit Hacke und Schaufel den Kohleabbau aufrecht zu erhalten. Kohlewagons konnten in den Kraftwerken nicht entladen werden weil die nasse Braunkohle zu Eis erstarrt war. Versuche die Wagons mit Sprengstoff zu entladen scheiterten und führten oft zu großen Schäden.
Die fast ausschließlich auf Braunkohleverstromung basierende Energieversorgung der DDR kam an ihre Grenzen. Mehr als die Hälfte der damals installierten Kraftwerkskapazität von etwa 18.000 MW war nicht mehr einsatzfähig [1]. Reserven waren nicht vorhanden, der DDR Elektroenergieversorgung drohte der totale Zusammenbruch.
Einsatzplan Netz-in-Gefahr Stufe X
Für extreme Ereignisse existierten entsprechende Einsatzpläne welche als Geheime Verschlusssache (GVS) in den Schubladen der Energiekombinate lagen. So gab es ein fünfstufiges Netz-in-Gefahr Szenario, welches einen abgestuften Lastabwurf (Stromabschaltung) von bestimmten Großabnehmern oder Mittelspannungs - Netzregionen vorsah. Bei der höchsten Stufe, der Netz-in-Gefahr Stufe X war dann auch ein Lastabwurf auf der 110 kV Ebene, also großflächige Stromabschaltungen, vorgesehen. Solche Maßnahmen sind auch heute notwendig um den Zusammenbruch eines komplexen Elektroenergieversorgungssystems mit hohen Folgeschäden zu verhindern.
Der Netzbetrieb für die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl wurde damals zentral vom Energiekombinat Süd in Erfurt gesteuert. Weil in diesen Bezirken zwar ein hoher Verbrauch an Elektroenergie zu verzeichnen war, gleichzeitig aber nur wenige Erzeugungskapazitäten vorhanden waren, war die Thüringer Region besonders für den Plan X prädestiniert. Da sich zu Silvester die Versorgungslage zunehmend verschärfte, die Netzfrequenz pendelte um 49,5 Hz, erfolgte bereits am Vormittag die Ankündigung dieser Maßnahme. Der DDR Ministerrat hatte am 31. Dezember 1978 gegen 11 Uhr beschlossen den Plan X freizugeben.
Der seinerzeit im Energiekombinat Süd diensthabende Schichtingenieur Axel-Rainer Porsch erhielt am 1. Januar 1979 gegen 15 Uhr den telefonischen Befehl zur Ausführung der Netz-in-Gefahr Stufe X. Er verständigte sofort die damals noch mit Personal besetzten Umspannwerke in Erfurt-Nord, Remtendorf und Suhl. Von dort erfolgte unverzüglich die Abschaltung der 110 kV Stromversorgung und damit auch der untergelagerten Netzebenen.
Wenige Minuten später meldete Porsch Vollzug der Maßnahme nach Berlin. Ganz Thüringen war ohne Elektroenergie! Dieser verzweifelte Befreiungsschlag war notwendig, um das braunkohlebasierte DDR Stromversorgungssystem nach einer gewissen Verschnaufpause mit verminderter Leistung zu stabilisieren und langsam wieder aufzubauen.
Das 220 kV Übertragungsnetz blieb allerdings weiter in Betrieb. Da jedoch die Umspannwerke nicht lange von der Stromversorgung getrennt werden konnten, denn die Eigenversorgung mit stationären Batterieanlagen ist zeitlich begrenzt, erfolgte schon gegen 23 Uhr die Genehmigung aus dem 220 kV Netz die Eigenversorgung der Umspannwerke zu realisieren [2].
Plan X traf die Menschen und Betriebe in Thüringen völlig unvorbereitet, verhinderte allerdings den totalen Zusammenbruch des gesamten DDR Stromversorgungssystems, obgleich dieses schon von regionalen temporären Abschaltungen gezeichnet war. Auch im Kraftwerk Erfurt - Gispersleben, welches mit seinen modernen Gasturbinen (75 MW) und Dampfturbinen (8 MW) Erfurt versorgte, gingen am Neujahrstag 1979 die Lichter aus [3].
Wiederinbetriebnahme
Im Laufe des nächsten Tages konnten in Thüringen zunächst Stromversorgungsinseln ihren Betrieb wieder aufnehmen. Da Pumpspeicherkraftwerke schwarzstartfähig sind, d.h. unabhängig vom Stromnetz vom abgeschalteten Zustand ausgehend hochfahren können, wurde durch eine Direktschaltung über die 220 kV - Leitung vom Pumpspeicherkraftwerk Hohenwarte II über die Umspannwerke Remtendorf und Erfurt-Nord die Gisperslebener Gasturbinen wieder hochgefahren. Damit konnte Erfurt und das Umland wieder mit Strom versorgt werden. Nach und nach wurden die lokalen Inselsysteme wieder im Verbundnetz zusammengeführt.
Eine völlige Stabilisierung der Energieversorgung dauerte jedoch noch einige Tage da Folgeschäden an Betriebsmitteln, wie Eisbruch an Freileitungen und durch Frosteinwirkung zerstörte Infrastruktur in den Betrieben, erst behoben werden mussten. Die älteren Leser dieses Berichts können sich bestimmt noch sehr lebhaft an dieses Ereignis erinnern [4].
Quellen
- [1] Studien zu einem Abriss der Geschichte der Elektroenergieerzeugung auf dem Gebiet der DDR seit 1945, ORGREB - Institut für Kraftwerke, Betriebssektion der KDT, AK Geschichte der Elektroenergieerzeugung, 1984
- [2] Porsch, Axel-Rainer; Rauchhaus, Hans: Zeitzeugenberichte
- [3] Neuhaus, Siegmar; Will, Klemens: 100 Jahre Elektrizitätswerk in Gispersleben, TEAG Thüringer Energie AG, 2000
- [4] Herr, Katja: Der Katastrophenwinter in der DDR 1978 / 79 , MDR - Fernsehen, 2003, Video auf Youtube